Abnehmen ist nie einfach – aber mit Adipositas fühlt es sich oft an, als würde man auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad spielen. Jeder Schritt ist von besonderen Herausforderungen begleitet: Der Körper reagiert anders, die Psyche kämpft mit eigenen Hürden, und die Gesellschaft? Die hat dazu auch noch ihre eigene Meinung. Wer mit starkem Übergewicht abnimmt, macht nicht nur eine Ernährungsumstellung durch, sondern eine ganze Lebens- und Identitätsveränderung.
Der Körper als Bremse
Für Menschen mit Adipositas ist der eigene Körper oft nicht nur zu schwer, sondern fühlt sich manchmal wie ein Gegner an. Gelenke, die bei jeder Bewegung protestieren. Ein Stoffwechsel, der sich durch jahrelange Überlastung gegen schnelle Veränderungen sträubt. Und das Training? Während andere mit ein paar knackigen Workouts durchstarten, bedeutet jede Bewegung für stark Übergewichtige erst einmal eine enorme Belastung.
Dazu kommen medizinische Aspekte, die selten offen besprochen werden: Insulinresistenz, hormonelle Dysbalancen, ein geschädigter Stoffwechsel – all das kann den Fortschritt erheblich verlangsamen. Es ist nicht einfach nur eine Frage von „weniger essen, mehr bewegen“. Es ist ein langer Prozess, bei dem der Körper erst einmal lernen muss, dass er sicher abnehmen kann, ohne in den Hungermodus zu schalten.
Ich kenne diese Situation aus eigenem Erleben. In meiner schwersten Phase habe ich knapp 160 Kilo gewogen und mit einem BMI von rund 50 gelebt. Selbst die kleinsten Herausforderungen, wie Treppensteigen, wurden zu echten Problemen. Die Sprüche anderer Menschen dazu waren alles andere als motivierend. Kaum jemand verstand, dass ein Aufzug oft eine Rettung war – nicht bloße Bequemlichkeit. Blöde Kommentare habe ich geschluckt – genauso wie später die Trost-Sahne-Torte. Über die Jahre vermied ich jede körperliche Herausforderung und verlor das Zutrauen in meine eigene Leistungsfähigkeit. Als ich nach 40 Kilo Abnahme vorsichtig mit dem Laufen begann, hatte ich einen echten Aha-Moment: Mein Puls erholte sich nach Belastung schneller, als ich dachte. Und ich musste trotz heftigen Atmens nicht direkt die Notaufnahme aufsuchen. Das musste ich erst wieder neu erfahren.
Die Psyche spielt ihr eigenes Spiel
Während viele sich darauf konzentrieren, wie viele Kalorien in einem Teller Pasta stecken, läuft im Kopf eine viel größere Rechnung ab: Selbstzweifel, Angst vor Rückschlägen und die Frage, ob man das überhaupt schafft. Menschen mit Adipositas haben oft jahrzehntelang erlebt, wie ihnen das eigene Gewicht gesellschaftlich zum Makel gemacht wurde.
Viele wachsen mit Diätmentalität auf, scheitern immer wieder an unrealistischen Vorgaben und entwickeln dadurch eine tiefe Unsicherheit gegenüber dem eigenen Körper. Wer lange adipös war, kennt das Gefühl, dass Essen nicht nur Nahrung ist, sondern auch Trost, Ablenkung oder Belohnung. Der mentale Part des Abnehmens ist daher mindestens genauso schwer wie der körperliche – wenn nicht noch herausfordernder.
Das fortwährende negative Erleben des eigenen Körpers führt – so war es bei mir – oft zu einer emotionalen Gegenreaktion und Vermeidungshaltung. Man sieht sich selbst immer weniger als handlungsfähige Person, sondern beginnt, sich unbewusst aus vielen Situationen herauszuziehen. Dieses Muster zu durchbrechen, war für mich eine der größten Herausforderungen – und es brauchte mehr Aufmerksamkeit als die eigentliche Abnahme selbst.
Die Umwelt als zusätzliche Hürde
Ein weiterer Faktor, der das Abnehmen mit Adipositas anders macht, ist das soziale Umfeld. Plötzlich wird der eigene Teller unter Beobachtung gestellt: „Darfst du das essen?“ oder „Warum isst du jetzt so wenig?“ – Kommentare, die man früher nicht gehört hat, weil die Erwartungshaltung eine andere war. Menschen mit starkem Übergewicht werden oft in eine Schublade gesteckt: Entweder als jemand, der sich „gehen lässt“, oder als jemand, der „endlich was tut“ – als gäbe es nichts dazwischen.
Das macht es schwer, den eigenen Weg zu finden. Besonders, wenn man sich nicht nur gegen innere Widerstände, sondern auch gegen äußere Erwartungen behaupten muss. Wer mit Adipositas abnimmt, erlebt oft einen merkwürdigen Perspektivwechsel: Zuerst war man „zu dick“, dann „auf dem richtigen Weg“ – und plötzlich soll man sich ganz anders verhalten, damit andere sich nicht unwohl fühlen.
Dabei ist es wichtig anzuerkennen, dass auch Menschen mit leichtem Übergewicht, die etwa 10 Kilo verlieren möchten, vor einer echten Herausforderung stehen. Ihr Weg ist anders, aber nicht weniger bedeutsam. Einige Experten empfehlen in diesem Zusammenhang, nicht primär das Fett zu bekämpfen – denn dieser Kampf sei oft zum Scheitern verurteilt – sondern aktiv an Muskulatur und Fitness zu arbeiten. Das Gewicht würde sich dann von selbst einpegeln, sofern keine anderen Faktoren dagegenstehen und eine ausgewogene, kalorienbewusste Ernährung praktiziert wird. Dieser Ansatz ist allerdings sehr kontextabhängig. Einen 200-Kilo-Menschen mit schweren körperlichen Einschränkungen dazu zu ermutigen, einfach nur „mehr Muskeln aufzubauen“, wäre mindestens zynisch.
Ein eigener Weg
Abnehmen mit Adipositas ist nicht einfach eine Diät. Es ist eine komplette Veränderung des Lebensstils, der Denkweise und oft auch der Selbstwahrnehmung. Es bedeutet, den eigenen Körper und seine Signale neu kennenzulernen, mit Rückschlägen umgehen zu lernen und dabei nicht die Freude am Leben zu verlieren. Es ist ein langer Weg, aber er lohnt sich – nicht nur für die Zahl auf der Waage, sondern für das gesamte Lebensgefühl.
Bild von TreesRGreen auf Pixabay
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