Der Moment kam nicht beim Arzt. Nicht auf der Waage. Und auch nicht beim Versuch, mir die Schuhe zu binden. Oder der unglückliche Badewannenvorfall von 2020, der mir klar machte, das mein massives Gewicht nicht mal eben aus der Badewanne zu heben ist. Es folgte ein grotesker Kampf mit der Schwerkraft. Stundenlang, lächerlich – aber real.
Es war der Spiegel. Ein ehrlicher, harter, nicht nachsichtiger Spiegel – im Vorbeigehen, in einem Schaufenster. Auf dem Auto-Lack. Im Bad. Ich sah mich, wie ich war. Nicht gefiltert, nicht aus der gewohnten Ich-Perspektive. Und ich erschrak. Verdrängte. Erschrak erneut und verdrängte ebenfalls.
Ich war gut darin gewesen, mich selbst zu übersehen – und damit erfolgreich zu verdrängen, was ich längst wusste. Mir war klar, dass ich zu viel wog. Ich kannte die Zahl. Aber ich hatte mich an meine eigene Silhouette gewöhnt. An die Enge der Kleidung. An das Pfeifen beim Bücken. An das ständige Sitzen. Ich hatte mich eingerichtet in der Illusion: So schlimm ist es doch gar nicht.
Aber da war dieses Spiegelbild. Und es ließ sich kaum dauerhaft wegdenken. Es stellte keine Fragen. Es erklärte nichts. Es war einfach da – und zeigte mich. Und plötzlich stimmte das innere Bild nicht mehr mit dem äußeren überein.
Wenn Erkenntnis nicht motiviert, sondern lähmt
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass dieser Moment mich motiviert hat. Dass ich sofort Laufschuhe kaufte und ein Salatblatt aß. Aber das stimmt nicht. Zuerst kam der Rückzug. Die Scham. Und die alte Bekannte: Selbstabwertung. Ich aß mehr. Unmengen an Kalorien. Trost suchte ich in Fett und Zucker, ziemlich gute Freunde, die immer für mich verfügbar waren und mir ein gutes Gefühl vermittelten.
Mir war klar: Ich hatte versagt. Schon wieder. Immer wieder. Mir fiel es immer schwerer, das eigene Spiegelbild zu ertragen und den Spiegel zu ignorieren führte nur in die eigene Frustration.. Der Spiegel war zur Wahrheit geworden – und ich war mittendrin. Kein Ausweg.
Wie Veränderung langsam wird
Was mich rettete, war nicht die Einsicht. Es war Geduld. Und irgendwann der Entschluss, nicht alles auf einmal zu ändern – sondern nur den nächsten Tag. Und dann den nächsten. Ich fing klein an. Mehr Wasser. Weniger Limo. Dann erste Spaziergänge. Viel später wurde daraus Laufen.
Mittlerweile weiß ich: Der Spiegel war kein Feind. Er war unbequem. Aber ehrlich. Und genau das habe ich gebraucht. Nicht den perfekten Plan. Sondern das erste Mal wieder aufrecht vor dem Spiegel stehen, ohne den Blick abzuwenden. Und den Mut, mir nicht mehr auszuweichen.
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